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neues Ich, eine ethische Identi- ziehung und er oder sie strebt das Liebe zum Nächsten sowie die
tät (Lévinas): Jemand ruft mich. gleiche für mich an. So entsteht Liebe zum Fremden und zum
Nur ich kann antworten. der Dreiklang der Liebe. Gegner nicht nur aus der Erfah-
War und bin ich in der zweiten Splett bezieht sich dabei auf Ri- rung der Liebe Gottes zu mir in
Lektion dabei, zu lernen, mich chard von St.Viktor (12.Jh.) der Jesus Christus speist. Auch wenn
für Begegnungen zu öffnen, schreibt: „Wenn einer einem an- diese Liebe Gottes das großartigs-
mich nicht zu schützen, mich deren Liebe schenkt, wenn ein te Angebot aller Zeiten darstellt,
verletzlich zu machen, so gilt es Einsamer einen Einsamen liebt, gehören auch all diese mensch-
in dieser dritten Lektion zusätz- dann ist zwar Liebe vorhanden, lichen Lektionen dazu: sich für
lich, mein Ich zurückzustellen. aber die Mitliebe fehlt. Wenn den anderen interessieren, ihm
Das klingt radikal: Die Angst, zu zwei sich gegenseitig gern ha- nicht mit Vorurteilen begeg-
verletzen, tritt an die Stelle der ben, einander ihr Herz in hohem nen, zuhören lernen, kritikfähig
Angst, verletzt zu werden! Sehnen schenken und der Lie- werden, sich selbst nicht durch
Als Christ ist mir dieser Gedanke besstrom von diesem zu jenem, eigene Bilder schützen, die Not
nicht fremd. Jesus selbst sagt, dass von jenem zu diesem fließt und des anderen an sich herantreten
wir unser Leben um seinetwillen gegenläufig je auf Verschiedenes lassen, Behutsamkeit im Mit-
und um des Nächsten willen ver- zielt, dann ist zwar auf beiden einander praktizieren und sich
lieren sollen, nur dann können Seiten Liebe da, aber die Mitlie- für das Leben des anderen ein-
wir das eigene gewinnen. Und be fehlt. Von Mitliebe kann erst setzen, einschließlich seiner Be-
Jesus selbst spricht uns das Ge- dann gesprochen werden, wo ziehungen zu Gott und anderen
liebtsein immer wieder zu, das von zweien ein dritter einträch- Menschen. Mit anderen Wor-
wir als Halt brauchen, um über- tig geliebt, in Gemeinsamkeit ten: Ohne all diese Lektionen ist
haupt so lieben zu können. liebend umfangen wird und die auch eine dauerhafte Agapeliebe
Neigung der beiden in der Flam- nicht möglich.
Liebe braucht den Dritten me der Liebe zum Dritten unun- All das sind Bausteine der Nächs-
Seit etwa 10 Jahren darf ich eine terschieden zusammenschlägt.“ tenliebe, getragen von der Liebe
vierte Lektion entdecken: Voll- Richard von St. Viktor wieder- Gottes zu mir, die auch zu mir
kommene Liebe braucht den um entfaltet diesen Denkansatz hält, wenn ich in diesem Lern-
Dritten! aus seiner Trinitätslehre: Gott ist prozess immer wieder strauchle
Das ist die provokative These in sich dieser Dreiklang der Lie- und nie am Ziel ankomme.
des christlichen Religionsphilo- be, in die er uns als seine Kinder Was wird die fünfte Lektion sein?
sophen Jörg Splett (1936). Zwei mit hineinnehmen möchte. Um
alleine genügen sich nicht, Liebe es in eigenen Worten radikal aus-
vollendet sich erst dann, wenn zudrücken: Ein „Ein-Gott“ allei-
jeder die Menschen mitliebt, ne kann nicht Liebe sein, auch
die der andere liebt, und seinem ein zweifacher Gott kann nicht
Nächsten hilft, diese Dritten zu Liebe sein, nur ein dreieiniger
lieben. Eheliche Liebe, die Kin- Gott ist die Liebe, die vollkom-
der einbezieht, wäre ein Beispiel mene Liebe.
für diese Liebe. Splett geht es Zurück zu meinen Lektionen
aber zunächst um die Gottesbe- des Miteinanders.
ziehung des anderen: Ich bitte Ich beginne zu begreifen, dass
Gott für mein Gegenüber und sich die Agapeliebe Gottes, die
ich helfe ihm in seiner Gottesbe- Liebe zu den Geschwistern, die
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